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Wenn der Knast das Zuhause ist
7.11.2024
Frühere JVA-Leiterin Maria Look predigt in der Kirchengemeinde Wickede
Von Toni Nitsche
Wickede. Mit einer berührenden Predigt und viel Nachdenklichkeit begingen die Wickeder Christen den Reformationstag. Der Thesenanschlag Martin Luthers am 31. Oktober 1517, der als Beginn der Reformation gilt, wurde als Anlass genommen, um wesentliche Fragen zu stellen: „Was hat sich in unserer Gesellschaft, unserer Gemeinde und unserer Kirche verändert? Was entspricht heute noch Gottes Willen? Und was sollte sich – um Gottes Willen – noch ändern?“
Zum Reformationstag lädt die evangelische Gemeinde traditionell eine Gastrednerin oder Gastredner ein: Maria Look, langjährige Direktorin der Justizvollzugsanstalten (JVA) Münster und Werl, gab in diesem Jahr Einblicke in die Herausforderungen und Chancen ihres Berufsalltags. Mit ihrer reichhaltigen Berufserfahrung und Schilderungen über menschliche Begegnungen, die sie als Anstaltsleiterin im Justizvollzug sammelte, machte Look deutlich, wie wichtig ein humanistisches Menschenbild und eine christliche Haltung im täglichen Umgang – auch in belastenden Situationen – sind.
Mit Geschichten, die nachdenklich stimmen, zeigte Maria Look auf, wie ein wertschätzender Umgang zur Grundlage der Zusammenarbeit wird. „Die Menschen wollen ‚gesehen‘ werden“, betonte sie und verwies auf die Bedeutung kleiner Gesten, wie des Grußes am Morgen. In beiden Bereichen, ob im Umgang mit Mitarbeitenden oder Gefangenen, herrsche der gleiche Bedarf an Verständnis und Offenheit. Respektvolles Zuhören, das Eingehen auf das Gegenüber und das klare Formulieren der eigenen Standpunkte bildeten für sie die Basis ihrer Arbeit. Look berichtete, wie sie ihre Aufgabe als Dienstleiterin sowohl in der Förderung und Unterstützung ihrer Bediensteten als auch in der motivierenden und kritischen Begleitung der Gefangenen sah.
Ein besonders eindrückliches Beispiel ihrer Laufbahn verdeutlichte ihre Grundsätze: Ein junger Bediensteter, der seine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen hatte und später einmal eine gute Führungskraft werden wollte, sollte aufgrund personeller Engpässe in der Anstalt für einige Wochen eine Wach-Kanzel besetzen. Er fühlte sich dort unterfordert und äußerte Bedenken. „Wer führen will, muss auch lernen zu dienen“, antwortete sie ihm und zeigte auf, wie wichtig eine flexible und unterstützende Haltung für den Zusammenhalt und die Zufriedenheit im Arbeitsumfeld ist.
Auch über ein anderes Beispiel berichtete Maria Look. Ein junger Mitarbeiter, der nach dem Tod seiner Frau plötzlich alleinerziehender Vater von zwei Kindern war, erhielt die Möglichkeit, seine Arbeitszeit flexibel zu gestalten, um Familie und Beruf zu vereinbaren. Die Gemeinschaft unterstützte ihn über Jahre hinweg. Als sich seine Situation durch eine neue Partnerschaft entspannte, wurde sein Arbeitsplatz für andere freigegeben, die dringend Unterstützung benötigten. „Solidarität weitergeben“, nannte sie dies und betonte, wie wertvoll das soziale Miteinander und die gegenseitige Unterstützung seien.
Kultur der Achtung und des Vertrauens
Maria Look teilte auch bewegende Einblicke in die Begegnungen mit Gefangenen, die von schweren Schicksalen geprägt waren. Sie erzählte von der besonderen Aufgabe im Justizvollzug, Einsicht und Verantwortungsbewusstsein bei den Gefangenen zu fördern. Beispielsweise hatte ein Häftling den Wunsch geäußert, das Grab seiner Freundin zu besuchen, die er in einer Eifersuchtstat getötet hatte. Obwohl die Eltern der Getöteten diesen Wunsch ablehnten, regte der Fall dazu an, die eigenen Haltungen und das eigene Verständnis von Vergebung zu hinterfragen. „Könnte ich – wenn ich in einer solchen Situation wäre – vergeben?“ Diese Frage stellte sie in den Raum und ließ sie bewusst offen.
Ein weiterer Bericht handelte von einem inhaftierten älteren Mann, der seit fast 50 Jahren in Haft saß. Für ihn war das Gefängnis in Werl sein Zuhause geworden, das er nicht verlassen wollte, selbst als er pflegebedürftig wurde. Sie erinnerte sich dabei an viele Seniorinnen und Senioren außerhalb des Gefängnisses, die trotz widriger Umstände in ihrem Zuhause bleiben möchten. „Das Leben verlangt von uns immer wieder, Menschen mit Respekt und Würde zu begegnen“, betonte sie.
Mit einem persönlichen Erlebnis schloss Maria Look ihre Predigt ab. Auf dem Heimweg von der JVA Werl nach Münster verlor sie bei hoher Geschwindigkeit einen ihrer Autoreifen. Der Abschleppdienst kam ihr zur Hilfe, und der Fahrer erinnerte sich an seine eigene Zeit als Häftling in Münster, die durch Look geprägt worden war. „Sie kennen mich vielleicht nicht mehr, aber Sie haben bei mir damals auf der Bettkante gesessen, als ich in der JVA Münster meinen Abschluss gemacht habe.“ Er erzählte stolz von seiner heutigen Arbeit und Familie und bedankte sich dafür, dass Menschen wie sie zu einem besseren Start nach der Haftzeit beigetragen haben.
„Gott, schenke uns allen einen wertschätzenden Blick auf unsere Mitmenschen“, lautete das abschließende Gebet von Maria Look. „Hilf uns, einander zu vergeben und eine Kultur der Achtung und des Vertrauens zu fördern, die den Frieden bringt – nicht nur in unserer Gemeinde, sondern auch darüber hinaus. Gib uns den Mut, immer wieder neu anzufangen und die Kraft, unsere christlichen Werte im Alltag zu leben.“